© Dieter Rednak
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Zur Vorgeschichte Mit meiner Familie kam ich im April 1957
als Zehnjähriger nach Hamburg. Im Jahre 1952 musste das Aufnahmelager
allerdings geräumt werden, da die Mönche den verständlichen
Wunsch geäußert hatten, nach einer siebenjährigen Unterbrechung
in den zur Verfügung gestellten Räumen nicht nur die seelsorgerische
Arbeit wieder aufzunehmen, sondern auch die pädagogische Tätigkeit
im angeschlossenen Gymnasium erneut beginnen zu lassen. Das Leben war damals zwar eigenartig und
gewiss nicht immer romantisch, aber für uns Kinder, die wir noch
ohne Fernseher, Radio und Strom, ohne Kühlschrank, Zentralheizung
und Waschmaschine und ohne den Luxus eines Bades oder gar eines eigenen
Zimmers aufwuchsen, auch interessant gewesen: In freier Natur herum zu
toben, auf Bäume zu klettern, Straßen gefahrlos als Fußballplätze
umfunktionieren zu können, freilebende Tiere, z.B. Füchse, Rehe
und Hirsche aber auch Wildschweine, Blindschleichen und Kreuzottern in
freier Natur erleben zu dürfen und Heizmaterial, sowie Beeren und
Pilze selbst im Walde zu suchen, dass alles würde heute Tränen
der Rührung in die Augen so mancher Reformpädagogen treiben.
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Klaus und Dieter 1952 bei der Kartoffelernte © Foto Dieter Rednak
Nach einiger Zeit stellte es sich aber
heraus, dass dieses interessante, ereignisreiche Leben auf Dauer Probleme
aufwarf, die von uns nicht so ohne weiteres verdrängt werden konnten:
schließlich unterlagen wir noch für einige Jahre der allgemeinen
Schulpflicht. |
Der Verfasser dieses Artikels bei seinen Schularbeiten im Sommer 1956. Im Hintergrund erkennt man rasch hochgezogene Neubaugebiete, und über die Trümmer hat sich bereits eine karge Vegetation ausgebreitet. © Foto Dieter Rednak |
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Die zahlreichen Wohnwagen und Behelfsunterkünfte innerhalb Bremens waren den Hanseaten an der Weser auf Dauer unangenehm. Und so wurde uns schnell signalisiert, doch endlich weiterzuziehen. Gemeinsam mit der Familie eines befreundeten Maurers verließen wir deshalb die Stadt und zogen mit unseren Wagen an die Elbe. Hier, in der Neustadt, erhielten wir einen Platz zugewiesen, der gerade von seinen Trümmern freigeräumt und schnell von zahlreichen Wohnwagen in Besitz genommen wurde, obwohl man sanitäre Einrichtungen vergeblich suchte: das nötige Trinkwasser lieferte eine nahe Kneipe kostenlos, und die heute noch vorhandene öffentliche Toilette auf dem Großneumarkt war zwar gute 300 Meter entfernt, aber sie musste für unsere Bedürfnisse reichen. |
Wohnwagenplatz an der Straße Hütten. Auf der linken Seite erkennt man die © Foto Dieter Rednak |
Der Umzug ins Stellinger Moor Wie in Bremen, so hatte man auch in der Freien und Hansestadt längst Pläne entwickelt, um die zahlreichen Wohnwagenplätze aus der City endgültig zu verbannen und an einem unauffälligen Platz zusammenzufassen. Hierzu eignete sich das Stellinger Moor, am Rande des Hamburger Volksparks, in hervor-ragender Weise. Schließlich hatten schon die Nazis den Wert des einsam gelegenen Areals erkannt und dort einen Zigeunerplatz errichten und sogar diverse Erschießungen durchführen lassen. (2) Da die Wohnwagenlager angeblich das Stadtbild
verschandelten, verlangte im September 1958 der Bezirksausschuss
Mitte von der Hamburger Bürgerschaft eine Änderung der bestehenden
Gesetze, damit zukünftig eng bebaute Gebiete zu Sperrbezirken
für diese fahrbaren Unterkünfte erklärt werden konnten.
Und da sich die Bezirke Mitte und Altona bereits darauf geeinigt hatten,
sollten alle Wagen der Stadt ins Stellinger Moor gebracht werden. Mit
einem Kostenaufwand von 30 000 Mark wollte man hier einen Lagerplatz provisorisch
einrichten lassen. Mit nur 30 000 Mark wollte man einen Platz
herrichten lassen, auf dem es keinerlei sanitäre Einrichtungen gab.
Als wir im Herbst 1957 dort eintrafen, war auf dem Gelände lediglich
ein Plumpsklo mit jeweils fünf Aborten - für Männer und
Frauen getrennt vorhanden, und ein einziger Wasseranschluss sollte
für einige hundert Menschen ausreichen. Nun war es aber schwieriger als am Reißbrett
geplant, die Leute zu bewegen, ihre alten Plätze zu räumen und
die Kosten für den erzwungenen Transport auch noch aus der eigenen
Tasche zu bezahlen. Das Hamburger Abendblatt schrieb, dass die Bewohner
nach der neuen Verfügung auf die anderen Plätze umsiedeln müssten: Interessant ist der Hinweis, dass Wagen
ohne Räder einfach abgebrochen wurden. Unwillkürlich fragt man
sich: wo kamen denn die Menschen, die bisher dort gelebt hatten, nun hin?
Wahrscheinlich in eine Obdachlosenunterkunft, die für die meisten
wohl ein noch tristeres Leben als das in einem Wagen ohne Räder in
Aussicht stellte. Im Frühjahr 1959 wurde das neue Wohnwagengesetz
vor allem deshalb zügig durch die parlamentarischen Gremien gepeitscht,
weil 145 polnische Sinti und Roma nach Hamburg gekommen waren und die
Zahl der Menschen, die in der Stadt in einem fahrbaren Gefährt hausten,
auf etwa 3 000 erhöht hatten. Das neue Gesetz sollte nun dazu beitragen,
dass diese Form des Lebens nur dann geduldet werden könne, wenn die
Bewohner vor der Verabschiedung der neuen Regelung bereits so gewohnt
hatten. An den Einfallstraßen der Stadt wurden jetzt Wagen, die
in die Hansestadt hinein wollten, regelmäßig von der Polizei
angehalten, und die Ordnungshüter wiesen deren Besitzer auf die neue
Gesetzeslage hin. (6) |
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Einem Artikel des Hamburger Abendblattes
vom 25. 09.1957 unter dem Titel 'Wohnwagen müssen ins Stellinger
Moor - Mitte und Altona räumen bereits die Lagerplätze' ist
zu entnehmen, dass die Bezirke Mitte und Altona beschlossen hätten,
Hamburg dürfe "nicht länger durch Wohnwagenlager verschandelt
werden!" Die Bürgerschaft habe eine Änderung des Wohnwagengesetzes
beschlossen, so dass innerstädtische Stadtteile für Wohnwagen
gesperrt wurden.
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Man hatte zwar beabsichtigt, auf den Plätzen Stromanschlüsse zur Verfügung zu stellen, doch erfolgte die Installation im Stellinger Moor zu keiner Zeit. Auf dem neu angelegten Platz am Rondenbarg hingegen, zwischen der welt-bekannten Pianofabrik Steinway und einer gewaltig dimensionierten Mülldeponie, schloss man am 16. Februar 1962 die Wagen an das Stromnetz an. Das Bemerkenswerteste an diesem neuen
Lager war seine unangenehme Lage: durch die Nähe zu einer Müllhalde
befand es sich nämlich ständig unter einer übelriechenden
Dunstglocke. Doch diese Belästigung nahmen die Bewohner, im Gegensatz
zu Fremden, nach einiger Zeit wohl gar nicht mehr wahr.
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In einem Artikel vom Hamburger Abendblatt vom 16.2.1962 unter dem Titel Acht Wohnwagenplätze bekommen Stromanschluss heißt es, dass die Wohnwagenplätze in Entenwerder, Rondenbarg, Rugenbarg, Fuhlsbüttler Weg, Ostfalenweg, Bekkamp, Moorfleet und Hörstener Straße, Stromanschluss bekommen sollten, dafür habe die Hamburger Bürgerschaft 218 000 Mark bewilligt. "Auf den acht Plätzen stehen zur Zeit 530 Wohnwagen. Die Benutzungsgebühr soll von 15 auf 20 Mark pro Monat erhöht werden. Dadurch wird man im Jahr 30 000 Mark mehr einnehmen. Die Kosten für die Stromversorgung werden sich also in rund acht Jahren amortisieren."
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Da aber 145 Zigeuner man scheute sich damals noch nicht, diesen diskriminierenden Begriff selbst in Zeitungen zu gebrauchen - im Februar 1959 aus Polen nach Hamburg gekommen waren, musste für sie Platz geschaffen werden. Offenbar schienen die Planer am Schreibtisch nicht realisiert zu haben, wohin sie die 145 Männer, Frauen und Kinder gebracht hatten.
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Dass 145 "Zigeuner"
"vor anderthalb Wochen aus Polen nach Hamburg gekommen sind"
ist einem Artikel im Hamburger Abendblatt vom 27.2.1959 unter dem
Titel 'Platz für die Zigeuner Die meisten bleiben in Altona /
Wohnwagen rollen' zu entnehmen. Die "Zigeuner"
sollten, so das Hamburger Abendblatt, in Altona "angesiedelt"
werden. "Für sie soll jetzt im Schnellverfahren der neue Wohnwagenplatz am Rondenbarg hergerichtet werden. Die ersten 70 Zigeuner, alle Mitglieder einer Sippe, erschienen in den letzten Tagen im Bezirksamt Altona." Der Artikel betont, dass sich die "Zigeuner" "ordnungsgemäß" angemeldet hätten. "Die Entgegennahme der Anmeldung konnte von der Behörde nicht verweigert werden. Denn bereits früher nach Hamburg gekommene Angehörige der Sippe versicherten, dass für alle Zigeuner in Kürze Wohnwagen beschafft würden. ... Diese Wohnwagen sollen zum Lagerplatz am Rondenbarg gebracht werden." Aber, so heißt es weiter in dem Artikel, von den insgesamt zur Zeit 460 Zigeuner, die im Bezirk Altona lebten, habe sich "bisher ein Teil noch nicht beim Bezirksamt gemeldet" . |
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Zur nachträglichen Lagebestimmung des Stellinger Moors Da einige Fixpunkte im Laufe der Zeit
gänzlich entfernt worden sind, fällt es nicht gerade leicht,
den Standort des ehemaligen Lagers im Stellinger Moor heute zu bestimmen.
Und da alte Straßen vollkommen fehlen z.B. der Hogenfeldweg
am Rande des Parks -, neue aber hinzu gekommen sind und ein gewaltiges
Industriegebiet entstand, wird die nachträgliche Orientierung erheblich
erschwert. So fehlt der ehemalige Windsberg nun vollkommen sein
wertvoller Kies dürfte in zahlreichen Häusern verbaut worden
sein -, und die viel befahrene A 7 trägt auch nicht dazu bei, sich
die ehemalige Ruhe und Beschaulichkeit dieses Geländes auch nur im
Gedanken ausmalen zu können.
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Die Region um 1967.
Die Lage der späteren A7 ist in gestrichelter Form eingezeichnet.
Das Wohnwagenlager in alten Fotografien
Vor über 50 Jahren hatte keiner von uns im Traume daran gedacht, dass der schäbige Platz für spätere Generationen einmal von Interesse sein könnte. Das Meiste hielten wir deshalb nicht für darstellungswürdig, z.B. die Plumpsklos sowie die erbärmlichen Bretterverhaue, in denen Menschen jahrelang gelebt und Kinder aufgezogen hatten. Und auf jedem Foto musste selbstverständlich eine lächelnde Person oder eine Gruppe von Menschen vom dürftigen Hintergrund ablenken. So auch auf den folgenden Bildern.
Mit der Zucht von Enten, Gänsen und Kaninchen bewiesen viele Bewohner des
Lagers Eigeninitiative. Vater Breuer bereitet gerade das gesammelte Grünzeug für
das Federvieh vor.© Foto Dieter Rednak
Mutter Breuer mit ihrem Sohn als Täufling (1959)
© Foto Dieter Rednak
Dieter im Jahre 1960. Am rechten Rand des Fotos kann man noch Reste des ehemaligen Windsbergs erkennen. Es zeigt auch deutlich, dass das Stellinger Moor aus einer großen Fläche feinsten Sandes bestand. Im Hintergrund ist eine selbsterrichtete Holzbude zu erkennen, daneben ein ausrangierter Bus, beide dienten als Wohnunterkünfte.
© Foto Dieter Rednak
Auch diese Aufnahme unserer Mutter mit dem Kind einer benachbarten Familie auf dem Arm macht deutlich, wie gewaltig die Ausdehnung des Stellinger Moors 1959 war. Im Hintergrund kann man als dunkle Fläche den Volkspark erahnen.
© Foto Dieter Rednak
Teilräumung des Platzes im Sommer 1960
© Foto Dieter Rednak
Klaus auf einer alten NSU-Quickli (1960). Im Hintergrund die Buden, Wagen und Verschläge des WW-Platzes.
© Foto Dieter Rednak
Im Inneren unseres Wohnwagens (1959).
© Foto Dieter Rednak
Dieter und Andreas beim Musizieren (1960)
© Foto Dieter Rednak
Das äußere Erscheinungsbild unseres Wohnwagens mit seinen nicht gerade fachmännisch ausgeführten Anbauten war alles andere als beeindruckend. (1960)
© Foto Dieter Rednak
Mutter und Klaus beim gemeinsamen Musizieren (1960)
© Foto Dieter Rednak
Klaus beim Musizieren im Wohnwagen (1960). Allein der Wert des Akkordeons überstieg den des Wohnwagens um ein Mehrfaches. Die Bettgestelle sind aus Brettern grob zusammengehauen.
© Foto Dieter Rednak
Kindtaufe im Lager. Brigitte mit dem Täufling einer Nachbarsfamilie.
Das Auto zeigt, dass auch auf unserem Platz allmählich der Wohlstand, zumindest bei einigen Bewohnern, Einzug gehalten hatte.© Foto Dieter Rednak
Kindtaufe im Wohnwagenlager
© Foto Dieter Rednak
Beim Betrachten der Fotos wird deutlich,
dass die hier dargestellten Menschen keineswegs traurig und verbittert
dreinschauten oder gar das Aussehen von verelendeten Menschen oder gar
von Gelegenheitsdieben hatten. Nein, die meisten waren ganz normale Durchschnittsmenschen,
die auch in jedem anderen Umfeld hätten leben können.
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Ein Artikel im Hamburger Abendblatt
vom 16.2.1960 'Hamburger Rundblick - Täter gefasst
Bananenfresser Retter Reh' widmet sich einem Raubüberfall
auf einen 16 Jahre alten Dreherlehrling in der Nähe des Volksparks.
"Zwei junge Zigeuner aus dem Stellinger Moor, 13 und 14 Jahre alt,
haben zugegeben, ihn um zehn Mark beraubt zu haben, um ins Kino gehen
zu können." Ein weiterer Artikel des Hamburger
Abendblattes vom 08.04.1958 unter der Schlagzeile 'Kind schlief
im brennenden Wohnwagen' beschreibt ebenfalls einen Diebstahl.
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Die Zeitungen wussten ständig auch Berichte über das ungewöhnliche Verhalten von Sinti und Roma zu bringen, die man damals noch als Zigeuner diffamierte:
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Artikel im Hamburger Abendblatt vom
06.01.1960 unter der Schlagzeile 'Prügel für die junge
Nina Krach im Zigeunerlager / Heißer Krieg in der Luft'
beschreibt eine junge Frau folgendermaßen: "Sie heißt
Nina, ist glutäugig und von blendender Architektur. Ganze 17 Lenze
alt." Ihr Ehemann, mit dem sie "nach Zigeunerart",
also "ohne Trauschein", verheiratet sei, so das Hamburger
Abendblatt, heiße Kola und sei "ein Mann mit lockigem Haar
und ungestümem Temperament. Wenn er sich erhitzt, und er tut es leicht,
dann knistert es." "Bizets unsterbliche Carmen lebt mitten unter
uns. Was sich gestern Abend im Zigeunerlager Rondenbarg in Stellingen
abspielte, passt genau zum Refrain aus der Habanera, in dem es so schön
heißt: Die Liebe vom Zigeuner stammt, fragt nach Rechten nicht,
Gesetz und Macht."
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Die Schule am Hellgrundweg Wie die meisten Kinder, so mussten auch
wir nach dem Schulunterricht die Hausaufgaben erledigen. Aus Platzgründen
konnte das aber nur am großen Küchentisch geschehen. Man hatte damals bewusst die erste Ganztagsschule der Stadt in diesem Teil Hamburgs eingerichtet, weil hier Nissenhütten- und Wohnwagenlager nicht die Ausnahme, sondern die Regel waren. Aus diesem Grunde wussten auch die Lehrer, dass Leistungsschwächen einiger Kinder nicht allein den Schülerinnen und Schülern angelastet werden durften, sondern äußerliche Gründe dafür mitverantwortlich waren. Diese Ursachen wollte man mit Hilfe des ganztägigen Unterrichts zumindest minimieren helfen. Und in der Tat: während wir vorher nur ungern zur Schule gegangen waren und uns hin und wieder freie Tage durch einfaches Schwänzen verschafften, waren wir jetzt kaum noch zu halten, dorthin zu kommen, vor allem dann, wenn der Speiseplan ein leckeres Mittagessen versprach. Viele Klassenkameraden und kameradinnen
kamen aus dem Nissenhüttenlager an der Volksparkstraße, andere
von unserem Wohnwagenplatz im Stellinger Moor. Diejenigen hingegen, die
das Glück hatten, in einer Garten-laube mit Wasseranschluss leben
zu dürfen, betrachteten wir bereits als Die Probleme heutiger Schülerinnen und Schüler, immer nur die gerade angesagte Markenkleidung tragen zu müssen, kannten wir zum Glück noch nicht. So war es keineswegs selten, wenn ein Junge in Pantoffeln zur Schule gehen musste, weil das einzige Paar Schuhe, das er besaß, gerade neu besohlt werden musste. Niemand wäre auf die Idee gekommen, in so einer Situation über ihn zu lachen oder gar Witze darüber zu reißen, denn schließlich konnte das jedem von uns passieren.
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Artikel im Hamburger Abendblatt, 05.12.1960
'Die Fünf-Tage-Schule hat Exportchancen
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Manche Jungen trugen tagein, tagaus den gleichen Trainingsanzug. Und wenn die eine Seite zu schmutzig geworden war, dann wendete man eben die noch saubere linke Seite nach außen. | |
Wohnwagenalltag Kaum eines der Kinder unserer Schule am
Altonaer Volkspark hatte zu Hause ein Badezimmer, ja die Wenigsten von
ihnen kannten einen Wasseranschluss in der Wohnung. Aus diesem Grunde
sah unser Stundenplan einmal in der Woche im Schulgebäude duschen
vor. Eine derart simple Maßnahme entlastete die Familien bereits
erheblich. Einen elektrisch betriebenen Herd kannten
wir ebenso wenig, wie eine Waschmaschine, einen Kühlschrank oder
eine Zentralheizung. Wollte man es gemütlich warm haben, dann musste
der Ofen, der natürlich auch zum Kochen eingesetzt wurde, den ganzen
Tag über brennen. Das mochte an kalten Wintertagen ja noch ganz angenehm
gewesen sein; wenn es aber im Sommer 30 Grad heiß war, dann konnte
das Kochen am Herd zu einer ziemlichen Belastung werden. Die gesamte Fläche des Lagers war
mit Schotter befestigt. Da sich aber in diesem Material noch brennbare
Koksstücke befanden, suchten wir häufig die Wege ab und kamen
stets mit gefüllten Eimern zurück. Auf dem Windsberg gab es zahlreiche Kleingartenkolonien,
die nach und nach aufgegeben werden mussten, da die Bagger den Berg unerbittlich
abtrugen. Im Lager gab es zwei kleine Lebensmittelgeschäfte, doch konnte man hier nur das Allernötigste erwerben. Gemeinsam mit unserer Mutter begaben wir uns deshalb an jedem Sonnabend zu Fuß zum Großeinkauf zu Kaisers Kaffee, einem frühen Supermarkt am Schulterblatt. Dieser Weg, den wir dabei zweimal zurücklegen mussten, hatte eine geschätzte Länge von jeweils 3 oder 4 Kilometern. Und wenn der Kauf neuer Schuhe anstand, dann marschierten wir noch ein gutes Stück weiter, zu Schuh Goertz, direkt am Neuen Pferdemarkt. In einem Lager wie dem im Stellinger Moor kamen die unterschiedlichsten Qualifikationen und Berufe der Bewohner zusammen. Viele von ihnen nutzten ihr Wissen und Können, um es an die Mitbewohner gewinnbringend weiterzugeben. So gab es Friseure, die ihre Kunstfertigkeit gegen ein geringes Entgelt zur Verfügung stellten. Ein Anderer verfügte über handwerkliche Fähigkeiten und bekam jedes Schloss auf und jedes defekte Fahrrad wieder zum Laufen. Auch er verstand es, seine Fähigkeiten nutzbringend für alle anzubieten. Ein Dritter schließlich nutzte eine ehemalige Regentonne als Räucherofen und garte über einem kleinen Buchenholzfeuer Makrelen, Aale, Heringe und Forellen. Schon der Geruch, der an den Räuchertagen von seinem Wohnwagen ausging, ließ bei uns das Wasser im Munde zusammenlaufen, und wir konnten es gar nicht erwarten, diese Köstlichkeiten noch warm zu probieren. Das Zusammenleben mit Roma und Sinti bereitete uns keine Schwierigkeiten, da wir einige Jahre zuvor gute Erfahrungen mit dieser Bevölkerungsgruppe gemacht hatten. Gemeinsam mit ihnen wurde gelegentlich musiziert oder mit deren Kindern herumgetobt. Unser damaliges Schulsystem aber sortierte sie brutal aus und schickte die Jungen und Mädchen auf Sonderschulen, so dass kaum eines von ihnen an unsere Versuchsschule gesehen wurde. |
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Resümee Das Leben am Rande des Existenzminimums bedeutete für uns nicht, auf Feiern gänzlich zu verzichten oder mit guten Freunden nicht zusammensitzen und gemeinsam essen zu können. Natürlich feierten auch wir im tristen Stellinger Moor, aßen und tranken gemeinsam, unterhielten uns ausgiebig, verstanden es noch, selbst Musik zu machen und freuten uns des Lebens. Es reichte zwar nicht für eine jährliche Urlaubsreise der Familie nach Italien, Spanien oder nach Griechenland, aber man konnte ja auch mit der Straßen- und der Eisenbahn bis in den Sachsenwald fahren und dort einen ganzen Tag fröhlich verbringen. Für ein derartiges Vergnügen standen wir früh auf, nahmen in Einmachgläsern für alle genügend Kartoffelsalat ebenso mit, wie in Flaschen abgefülltes Trink-wasser. Auch das genügte noch zum Glücklich sein. Doch bei aller Nostalgie darf nicht vergessen werden, dass man die heutige Bequemlichkeit keinesfalls mit den Strapazen der damaligen Zeit tauschen möchte und sollte. Es ist einfach zu verlockend, morgens nur die Heizung in der Wohnung aufzudrehen anstatt erst umständlich einen Kohleofen anzuheizen, ins Bad zu gehen, wann immer man es wünscht, sich zu duschen oder in die Wanne zu legen, anstatt Wasser endlos lange zu schleppen. Die schmutzige Wäsche in die Maschine zu packen ist angenehmer, als sie auf dem Waschbrett zu rubbeln, und ein Kühlschrank ist ebenso wenig aus unserem Leben mehr wegzudenken, wie ein Telefon, ein Computer, ein Auto oder eine Krankenversicherung, die wir übrigens auch nicht hatten. Und dennoch bin ich dankbar dafür, eine Kindheit erlebt zu haben, die dem vorvergangenen Jahrhundert deutlich näher stand als unserer heutigen Zeit. Dieter Rednak |
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Anmerkungen 1 Vgl. hierzu: Dieter Rednak, Sieben
zu ´ner Mark. Das Leben des Postkartenhändlers Alois
Rednak. 2 Vgl. hierzu: Anke Schulz: Hamburger
Zwangsarbeiterlager in der Lederstraße 1939 1945. Aachen
2010, 3 Vgl. hierzu: o. V.,: Hamburg in sechs
Monaten frei von Wohnwagenlagern. 4 o.V., Wohnwagen müssen ins Stellinger
Moor. Mitte und Altona räumen 5 Vgl.: oV., Ortsausschuss warnt vor Slums. In: Hamburger Abendblatt vom 12.06.1958 6 Vgl.: o. V., Gegen Wohnwagenübel.
In: Hamburger Abendblatt vom 7 Vgl.: o.V., Die Fünf-Tage-Schule
hat Exportchancen. Pädagogen von den Hamburger Versuchen beeindruckt.
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