In memoriam an den 2010 verstorbenen Historiker Gordon Uhlmann die online Veröffentlichung seines Beitrages aus dem Buch 'Fischkistendorf Lurup' von 2002.
© Gordon Uhlmann

Das öffentliche Bild von Krise und Erwerbslosenexistenz

Das öffentliche Bild der Erwerbslosigkeit, wie es etwa die wöchentlichen Bildbeilagen der Hamburger und Altonaer Tageszeitungen prägten, war zwischen 1929 und Januar1933 bestimmt von wiederkehrenden Fotografien langer Schlangen männlicher Erwerbsloser vor Meldestellen des Arbeitsamtes. Mit Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage und Vermehrung der Erwerbslosenzahl wurden weitere Motive zu Bildsymbolen der Krise: der »Schiffsfriedhof« Waltershof, das »Kohlenfischen « mit eisenverstärkten »Ketschern« in den Hafenbecken, wo Kohle angelandet wurde, Menschen im Schlamm vor den Spülrohren des Kohlehafens mit Körben und Köchern ebenfalls auf »Kohlenfang«, »Abfallsucher « am Rande der städtischen Müllhalden oder das »Krisenkleid«, gefertigt aus Flicken und Stoffresten.

Der »Hamburger Anzeiger« veröffentlichte in seiner Wochenbeilage vom 15. 0ktober 1932 eine doppelseitige Fotoreportage »Schwere Zeiten « zusammen mit Gedichten, die »Das proletarische Schicksal« zum Thema hatten. Sie zeigte z.B. unter dem Titel »Existenzminimum« sammelnde Erwerbslose am Rand des Freihafens, verlorenes Ladungsgut von der Straße auflesend. Für die Verknüpfung von Erwerbslosigkeit und Obdachlosigkeit standen zunehmend die »Fischkistendörfer« Lurup und Osdorf. Mit Andauern der Krise wurden sie etwa im sozialdemokratischen »Hamburger Echo« oder im liberalen »Hamburger Anzeiger « auch zum Symbol für die Eigeninitiative von Erwerbslosen in der Großstadt, die für viele zum unwirtlicher Ort ohne Lebenschancen geworden war.
Die Offsetbeilage der national-konservativen »Hamburger Nachrichten « brachte am 17. Oktober 1931 unter dem Titel »Kistendorf« einen halbseitigen Bildbericht mit folgendem kurzem Begleittext:

»In Osdorf-Nord ist eine Anzahl von Kleinsiedlungshäusern entstanden,
die mit den allereinfachsten Mitteln von den Bewohnern selbst gebaut worden sind. Fisch- und Margarinekisten und anderes wohlfeiles ›Baumaterial‹ wurde ausgiebig dabei benutzt.«
Dazu wurden drei Fotos abgedruckt. Das erste zeigt eine Reihe niedriger Kistenholzbauten entlang eines unbefestigten Weges. Vor dem Kistenhaus im Vordergrund – dessen Außenseiten nach und nach durch gesammelte Feldsteine verstärkt wurden – flickt eine Frau einen Fahrradschlauch, während eines der Kinder mit der Radfelge spielt. Das zweite Foto führt eine Situation während des Hausbaus vor. Das dabei verwendete Kistenholz ist auch anhand verschiedener Aufdrucke erkennbar. Zwei Männer sind mit Arbeiten am Holzdach und am gemauerten Schornstein beschäftigt, ein weiterer hantiert neben einer Pumpe über einem Eimer. Eine am Bildrand stehende Frau mit Schürze repräsentiert in dem Familienbild der Zeitungs-Beilage die Mutterrolle. Sie trägt ein Mädchen auf dem Arm und ein anderes hängt an ihrem Rockzipfel.
Der kurze Text und die Unterschriften zu den Bildern vermeiden den Begriff Arbeits- oder Erwerbslose, stellen die Abgebildeten vielmehr vorrangig als »Siedler« vor, korrespondierend zum zweiten Teil der Bildseite unter der Überschrift »Soldaten werden Siedler «. Die illustrierte Beilage des national-konservativen Blattes, die während der Weltwirtschaftskrise kaum auf die sozialen Probleme der Erwerbslosigkeit einging, rückte so unterschwellig die Eigeninitiative der Erwerbslosen im »Kistendorf« in die Nähe völkischer Siedlungsbestrebungen. Im Kontext der »Hamburger Nachrichten« und ihrer überwiegend wohlsituierten Leserschaft beschreibt das Foto auch den Außenblick auf eine »exotische« Welt der Armut.

Am 26. November 1932 – auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise – erschien in der illustrierten Beilage des auflagenstarken »Hamburger Anzeigers« ein Bildbericht unter dem Titel »›Kistendorf‹ stabilisiert sich«, geschrieben und fotografiert von Lotte Genzsch, der auch die Entwicklung der Ansiedlung beleuchtete:
»Als man vor etwa 3 Jahren nach Altona-Lurup kam, so grüßte einen zur linken Hand die schöne Osdorfer Heide. Heute ist sie fast vollständig dem Verwirklichungsgedanken der Siedlung gewichen. Das Schicksal der Arbeitslosigkeit und auch das Verlangen nach Bodenständigkeit haben die Siedlung entstehen lassen. Aus einfachen Fischkisten entstanden hier die ersten Häuser; später kamen auch die Steinbauten dazu, die aus Backstein errichtet waren oder deren Wände aus aufgeschüttetem Material bestanden. [...] Die Not der Zeit macht erfinderisch, und Hilfsbereitschaft und Kameradschaft kommen hier wieder zur vollen Geltung. [...] Man muß den Idealismus, der hier zu Werke geht, um so höher einschätzen, wenn man von der Unfruchtbarkeit des sandigen Bodens dieser Gegend erfährt, der nur nach mühsamer Bearbeitung, die für den Unterhalt notwendigen Erzeugnisse hergibt. Das Motto dieser Siedlung: ›Erwerbslos und doch nicht arbeitslos!‹«

Zwei Monate später war Hitler an der Macht. Die Propagandapolitik des NS-Staates setzte hinsichtlich der Massenarbeitslosigkeit, die in Hamburg und Altona trotz Abklingen der Weltwirtschaftskrise bis 1936/ 37 nicht behoben war, auch auf die »optische Bereinigung« des andauernden Problems: Arbeitslose wurden aus dem Bild der Öffentlichkeit verdrängt, zunächst in der Presse. Schlange stehende Erwerbslose vor den Stempelstellen der Arbeitsämter – ob an der Kieler Straße in Altona, in den Kohlhöfen oder am Sägerplatz in der Hamburger Neustadt – wurden in der weitgehend gleichgeschalteten Presse nicht mehr abgebildet, es sei denn als Rückblick auf die »überwundene Systemzeit « der demokratisch verfassten Weimarer Republik. Die Selbsthilfe der Erwerbslosen stuften die NS-Behörden bald als verdächtigen Freiraum ein, den es zu kontrollieren galt.


 

 

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